Irgendetwas sei falsch an der Einteilung in 'Rechte' und 'Linke' in der Politik unserer Tage. Wollten wir zu einem angemessenen Bild der tatsächlichen Verhältnisse kommen, so sei die 'Gesässgeographie' zu überwinden.
Das war eine der Grundannahmen der frühen grünen Bewegung in den 1970er Jahren. Die Geister schieden sich an der ökologischen Frage auf eine neue und keineswegs rechts-linke Weise, und zu alledem schien nun auch die praktische Überwindung der Kluft im Rahmen einer alternativen Bewegung neuen Typs möglich. Zu Anfang der 1980er Jahre stellte sich die Frage erneut mit der Friedensbewegung, in der Rechts und Links zusammenfanden - so schien es jedenfalls.
Inzwischen erwies sich das als Illusion. Die Kette der Versuche, sich jenseits des Gegensatzes von Rechts und Links zu platzieren, lässt sich als eine Serie von Vergeblichkeiten lesen. Die deutschen Grünen wurden zu einer 'normalen' bürgerlichen Partei, im Falle der Kriege gegen Serbien und Afghanistan sogar zur - wenngleich widerwilligen - Kriegspartei. Bei genauerer historisch-anthropologischer Betrachtung war es auch problematisch, den Rechts-Links-Gegensatz auf eine Sitzordnung zurückzuführen, und die Kritik der 'Gesässgeographie' ging damit polemisch ins Leere. Es geht gar nicht und ging nie ums 'Sitzen'. Der gesellschaftliche Realitätsgehalt von Rechts und Links ist neu zu erfragen.
Anstelle einer 'Gesässgeographie' stossen wir bei näherer Betrachtung eher auf eine
Phänomenologie der Hand, auf Fragen des Habitus, der Macht und des Konflikts. Der Unterschied zwischen Rechts und Links ist nicht überwunden, er wird auf absehbare Zeit nicht überwunden wer-den - und er sollte es im Interesse lebendiger Demokratie auch nicht werden. Wer das Ende von Rechts-Links behauptet, steht in der Regel rechts.
Sitzordnung der Ideen?
Woher kommt die Aufteilung des politischen Lebens in 'rechts' und 'links'? Die Zweiteilung bildet in der modernen Demokratie zwar ein festes Muster, aber dessen Inhalt ist alles andere als klar.
Der übliche Weg der Deutung ist ideengeschichtlich. Wie sich an den Ideen um die nationale Frage, die soziale Frage und die ökologische Frage zeigt, führt der Weg über die zwei politischen Ideen nicht zu einer klaren Sortierung von Rechts und Links. Die Deutung muß vielmehr strukturell anset-zen, an der Konfiguration des demokratischen Konflikts.
In den frühen Jahren moderner Demokratie entstanden aus der politischen Auseinandersetzung heraus duale Muster. Ihre Vorläufer kann man im England des 17. Jahrhunderts auffinden, als zwei Parlamentsparteien einander gegenübertraten, die konservativen Tories und die liberalen Whigs. Strukturell altertümlicher war es, wenn in den 1730er Jahren in Schweden zwei Hofparteien gegeneinander standen, die 'Hüte' und die 'Mützen'. Erst mit der modernen demokratischen Revolution in Frankreich 1789 spitzte sich der Inhalt solcher Dualismen zu und wurde zum Widerspruch zwi-schen Umsturz und Bewahren. Aber auch zu jener Zeit sprach man noch eher von der 'Bergpartei' (la montagne) auf der einen Seite, die die radikalen Revolutionäre umfasste, und der 'Ebene' (la plaine) auf der anderen, der Partei der Gemässigten, die man auch 'das Tal' oder polemisch 'den Sumpf' nannte. Erst unter dem König Louis Philippe, in den 1830er Jahren, etablierte sich die mo-derne parlamentarische Sitzordnung mit den Republikanern zur Linken des Präsidenten und den Monarchisten zur Rechten. In einigen Ländern haben Dualismen der halbwegs alten Art bis heute überlebt, z.B. in Irland mit dem Gegensatz von Fianna Fail und Fine Gael, die auf die Bürgerkriegs-parteien der irischen Selbständigkeit zurückgehen und nicht deutlich nach rechts oder links gesondert werden können. Und in den USA findet man ebenfalls keinen klaren Rechts-Links-Gegensatz zwischen Democrats und Republicans.
Gemeinsam für die antagonistischen Gegensatzpaare war eine gewisse Mobilisierungslogik, die die Demokratie als Bewegung des Volkes mit sich brachte. Sie lässt sich mit den agonalen Konfigurationen im Sport vergleichen. Auch Boxen und Fussball sowie andere Mannschaftssportarten kamen erst im Prozess der okzidentalen Modernisierung zu ihrer beherrschenden Stellung und wurden seitdem als 'naturgegeben' angesehen. Sie waren jedoch ebenso wenig 'natürlich' wie der Rechts-Links-Gegensatz in der Politik. Sie waren Ausdruck einer bestimmten Kultur, einer Kultur des Ent-weder-Oder.
Ihren klassischen und bleibenden Inhalt bekam die politische Zweiteilung, wie gesagt, erst von der revolutionären Demokratie her. Nun erschien auf der einen Seite die 'Bewegungspartei', wie man sie im Vormärz nannte: die für die Veränderung eintraten, die Revolutionäre und Republikaner, Demokraten und Sozialisten, 'Progressiven' und 'Volksfreunde'. Im Parlament sassen sie links. Auf der anderen Seite stand ihnen die 'Partei der Beharrung' gegenüber, die, wie der nationalrevolutio-näre 'Turnvater' Friedrich Ludwig Jahn sie nannte 'Hemmänner der Zeit, die Herren von Sonst, Bleibe und Rückwärts'. Die Anhänger von Thron und Altar, die Monarchisten und Kirchentreuen, die Adelspartei, die Reaktion, die Konservativen - sie sassen rechts.
Diese Ordnung erhielt sich bis in unsere Tage, obwohl sie von den politischen Ideen her nur Sinn gab, solange verfassungspolitische Fragen bestimmend waren, also die Alternative von Republik oder Monarchie, von Demokratie oder aristokratischer Elitenherrschaft. Sobald diese Frage ihre Zentralität verlor und überlagert oder ersetzt wurde durch die soziale Frage, durch die nationale Frage und später durch die ökologische Frage, wurde es zunehmend schwerer, die Inhalte von Rechts und Links zu bestimmen. An diesem Punkt setzten - bereits im ausgehenden 19. Jahrhun-dert - diejenigen kritischen Stimmen an, die ein Ende der binären Einteilung vorhersagten oder for-derten und einen 'dritten Weg' suchten. Dazu gehörten auch die Vorläufer des europäischen Fa-schismus, der sich dann als ni droite, ni gauche definierte. Zu Unrecht, wie sich im weiteren Verlauf der Dinge zeigte: Der Faschismus bildete einen Gipfelpunkt der europäischen Rechten.
… oder Körperpolitik?
Von der Ideengeschichte her lässt sich demnach der Inhalt von Rechts und Links im Fortgang des 20. und Übergang zum 21. Jahrhundert nicht ausreichend präzise bestimmen. Deutlicher wird das Bild, wenn man sich der Frage von der körperlichen Praxis her nähert.
Vergleicht man die Körperrepräsentationen und idealtypischen Körperbilder auf der Rechten und der Linken, so ergeben sich charakteristische Unterschiede. Der rechte Körper ist repräsentiert durch den muskulösen, maskulinen Körper, wie ihn Josef Thoraks und Arno Brekers Nazi-Skulpturen zeigten oder wie ihn die Statuen auf dem Foro Mussolini in Rom zum Ausdruck bringen. Mehr abstrakte Konzepte wie die von der 'Reinheit der Rasse' und die vom 'organischen' oder 'korporativen' Staat sind auf diese Körperimagination bezogen. Der 'Körper des Staats' ist zudem repräsentiert durch den Führer als einen drahtigen, energischen 'politischen Athleten', der sich im Idealfalle gern als Sportführer zeigt. Benito Mussolini, Il Duce des italienischen Faschismus, posierte als Fechter, Rennfahrer und in anderen sportiven Rollen. Der Führer der britischen Faschisten, Oswald Mosley, inszenierte sich ebenfalls mit athletischer Geste. Der dänischen Gymnastikführer Niels Bukh träumte um 1933, wenn er seine Jugendlichen in Reih und Glied kommandierte, davon, für Dänemark eine entsprechende Rolle wie Hitler zu spielen. Und in unseren Tagen qualifizierte sich der Geschäftsmann Silvio Berlusconi mit der Präsidentschaft des Fussballklubs AC Mailand für die Führung der italienischen Rechten.
Das Körperbild der Linken unterscheidet sich von diesem narzisstischen Stil der Selbstdarstellung und politischen Mythologie. Der 'linker Körper' ist eher asketisch und ideologisch diszipliniert, in anderen Varianten vernachlässigt. In der Welt der Linken herrscht das Wort über die Körperinsze-nierung und der kritische Diskurs über die Ästhetik des Muskels. Die fanatische Sportbegeisterung der Fans tendiert eher zur Rechten, die Sportkritik eher zur Linken.
Ein anderes Feld der Differenz ist der militärische Habitus. Die Rechte sucht die Nähe zur Uniform und anderen Formen militärischer Ordnung. Sie hat eine Vorliebe für einen bestimmten militäri-schen Bewegungsstil, der als 'zackig', 'straff' oder 'schneidig' bezeichnet wird. Der Faschismus führte das Paramilitärische weiter hin zur Verherrlichung der Gewalt und zur Militarisierung der Politik. Zwar sind auch auf der Linken verschiedentlich paramilitärische Formationen und Disziplinie-rungsformen aufgetaucht, aber sie begegneten stets mißtrauischen Blicken im eigenen Lager und erforderten spezielle Begründungen. Eine Theatralisierung des Militärischen konnte sich daraus kaum entwickeln - womit übrigens der linke Charakter des Stalinismus und der konfuzianischen Diktaturen Ostasiens grundlegend infragegestellt ist. Die linke Theatralisierung ist eher verbunden mit dem Happening und dem Kabarett, mit der ironischen Inszenierung und dem spontanen, impro-visierten Ereignis. Der Mai 1968 in Paris hatte Züge eines solchen Polittheaters.
Ein weiteres Ungleichgewicht ist unübersehbar in Bezug auf die Geschlechter. Der Männerbund ist typisch rechts, der Feminismus tendiert nach links. Zwar gibt es Ausnahmen, es gibt Altmännerrie-gen in der Führung linker Parteien und einzelne frauenbewegte Faschistinnen - und dennoch ist da keine Symmetrie.
Offenbar kann man dergleichen Unterschiede nicht von der Sitzordnung in Parlamenten der 1830er Jahre ableiten. Das wäre viel zu weit hergeholt. Sondern die Differenzen müssen sich von der Pra-xis der konkreten Menschen herleiten lassen.
Links-rechts können wir, wie gesagt, nicht von den politischen Ideen her erschliessen.
Denken kann man sich alles mögliche, und die 'linken Leute von rechts' (Otto-Ernst Schüddekopf) der Weimarer Zeit bleiben ein aufschlussreiches Experiment. Aber in der gesellschaftlichen Praxis stossen sich die Dinge hart im Raum. Insofern sollten wir davor gewarnt sein, den intellektuellen Überbau zu überschätzen. Darum ist weiterhin Bedarf an materialistischer Analyse: Was ist das für eine Praxis, die die Ideen hervorbringt, oder die sich gegen die Ideen durchsetzt?
Wenn wir dieserart versuchen, den menschlichen Praxisbezug ernst zu nehmen - warum spielt 'Rechts' und 'Links' für konkrete Menschen eine solche Rolle? - so stossen wir auf genau ein Feld, in dem wir alltäglich mit Rechts und Links konfrontiert sind: auf die rechte und die linke Hand. Nichts anderes veranschaulicht uns den Inhalt von Rechts und Links auf vergleichbare praktische Weise wie die Hände. Zwischen diesen beiden gibt es in der Tat grundlegende Unterschiede.
Die Hand, das Machen und die Macht
Die meisten Menschen bevorzugen die rechte Hand beim Arbeiten und Schreiben, beim Essen und Schlagen, beim Ergreifen und Formen von Dingen. Man spricht von einem Verhältnis der Rechts- zur Linkshändigkeit von 8 zu 1. Wir bevorzugen mit grosser Mehrheit die rechte Hand für Aktivitä-ten, die besondere Kraft oder Geschicklichkeit erfordern - wenn wir etwas 'machen', wenn wir 'handeln' und 'hantieren'. Zwar brauchen wir auch die linke Hand. Sie hilft uns, gegenzuhalten, dem Druck entgegenzuwirken, der von der rechten Hand ausgeht. Aber die linke Hand ist bei unse-rer täglichen Arbeit weniger aktiv, normalerweise auch weniger trainiert und weniger geschickt. Die Linke ist gewissermassen unsere theoretische Hand.
Kulturen haben diesen körperlichen Unterschied durch Sprache und mythische Bilder unterschied-lich bearbeitet und akzentuiert. In einigen Sprachen bedeutet linkshändig - auf deutsch 'linkisch' - soviel wie ungeschickt, unbeholfen oder unpraktisch. Das Linkische hat auch lächerliche Züge. Rechts, das Richtige und Rechthaben befinden sich auf derselben Seite - und die Rechthaberei?
Aber die linke Hand ist keineswegs überflüssig. Wenn unsere rechte Hand aus irgendeinem Grunde ausfällt, muss die linke Hand die Aufgabe übernehmen. Auch unter normalen Umständen ist die linke Hand notwendig, um durch Gegendruck die Arbeit der Rechten zu ermöglichen. Beim Geigen-spiel führt normalerweise die Rechte den Bogen, aber die Linke hält das Instrument. Nur wenn die linke Hand balancierend und widerständig die Violine hält, kann die Rechte in sinnvoller Weise musizieren.
Dass es sich nicht nur um ein musisch-harmonisches Zusammenspiel handelt, zeigt sich an der Waffe. Gewehre werden in der Regel für die Rechtshändigkeit konstruiert. Die linke Hand unter-stützt, aber die rechte betätigt den - tödlichen - Abzug. Das hat einen Vorläufer im Ungleichgewicht des Umgangs mit dem Schwert oder Degen: Die Waffe gehört in die rechte Hand (Für das minderheitliche Neuntel der Linkshänder sind Sonderwaffen zu fertigen.)
Die ungleichgewichtige Praxis von Rechts- und Linkshändigkeit hat also nicht zuletzt einen Aspekt derbewaffneten Gewalt. Allgemeiner gesagt: die Hände erzählen etwas über das Tun und Handeln, über Gewalt und Macht. Hier setzt der moderne politische Dualismus an. In den meisten Ländern haben rechtsgerichtete Parteien und Regierungen länger regiert als die Linke. Die klassische Rolle der Linken ist die Opposition. Dieses Ungleichgewicht hat seine Entsprechung im politischen Selbstverständnis der beiden 'Flügel', also dort wo die Praxis sich in Ideologie übersetzt. Die Rech-te kultiviert das Bild des 'Machers' - repräsentiert durch den Manager, den Soldaten, den Chef, den der 'Sachen macht'. Bei Ernst Jünger war es der monumentalisierte 'Arbeiter'. Die Rechte ideali-siert die Macht des Menschen über andere Menschen - ebenso wie die Macht des Menschen über Dinge oder Objekte. Entsprechend denunziert sie die Linke als 'Verhinderer'. Auf der anderen Seite hält die Linke Abstand zur Macht. Sie fordert zwar Reformen, Veränderung, eventuell gar die Total-veränderung, die Revolution. Aber sie fordert in der Regel nicht 'die Macht'. Das Konzept der 'Machtübernahme' ist rechts, das Konzept der Revolte tendenziell eher links.
Der Habitus des linken 'Verhinderers' ist nicht etwa eine Sache der Feigheit, der Wirklichkeitsflucht, des Ausweichens. Sondern oppositioneller Habitus hat eine humanistische Pointe. Es gibt gute Gründe, der Macht grundlegend zu misstrauen, ganz gleich ob sie sich auf der Ebene den öffentlichen Gewalt oder der kommerziellen Konkurrenz etabliert, als Macht des Staates oder Macht auf dem Markt. Es ist, in welcher Situation auch immer, sinnvoll, die herrschenden Machtstrukturen zu kritisieren, und die ironische Parole 'Keine Macht für niemand' bringt einen zutiefst humanistischen Traum zum Ausdruck. 'Anarchie ist machbar, Herr Nachbar' - das ist sie gerade nicht, und eben darum behält der Spruch seinen antiautoritär-aufmüpfigen Klang. Das linke, 'linkische' Verhältnis zur Macht hat mit der Autonomie von Menschen zu tun, auf dänisch myndighed, Mündigkeit und Selbstbestimmung. Unter den Bedingungen moderner Technologie und mit der Bedrohung unserer natürlichen Lebensgrundlagen durch industrielles Handeln, wird die Opposition gegen das 'Machen' und die Macht geradezu eine Frage des Überlebens - des ökologischen Überlebens und des menschlichen Überlebens.
Wenn die Linke in einem Lande die Macht übernimmt, so scheint es, dass sie dann nach rechts rückt. Das ist nicht primär eine Frage der Ideologie, sondern eher eine Frage des Habituswandels. Der ideologische Überbau mag - Wort für Wort - gleich bleiben, aber er verändert seinen Praxis-Ort, sobald die Ideen sich über Paraden und Sportaufmärschen, über Uniformen und Management-konferenzen wölben. Weder die Nomenklatura der Sowjetunion noch der sogenannte 'Beton' der Sozialdemokratie waren oder sind zufällig, und es genügt nicht, sie in moralischer Empörung als Korruption oder Bossismus zu beschreiben. Der Rechtsruck linker Regimes ergibt sich aus dem Spannungsverhältnis von rechter und linker Hand.
Natürlich sollte nicht vergessen werden, dass es auch die Linkshänder gibt, jenes nicht unwichtige Neuntel. Die Dialektik von politischer Rechter und Linker ist keine objektive biologische 'Realität', sondern eine gesellschaftliche Konstruktion, die sich - aus der konfrontativen Praxis moderner De-mokratie heraus - auf körperlich-konkrete Erfahrungen der Menschen bezieht. Darum handelt die Erzählung von Rechts und Links nicht von isolierten Feststellungen - der Schlips sei rechts..., links bedeute Frieden... - sondern von Beziehungen, Unterschieden und Spannungsverhältnissen. Um es mit Martin Buber zu sagen: wir haben es mit dem dialogischen Prinzip menschlicher Existenz zu tun. Aber der konkrete Ausdruck dieser Beziehung im politischen 'Rechts vs. Links' ist nicht anthro-pologisch universell, sondern spezifisch modern. Es gab keine 'Rechte' oder 'Linke' im alten Rom oder im Mittelalter. Es war die moderne Demokratie, die die Menschen auf der Suche nach der Selbstbestimmung des Volkes und der Völker nach dualen Koordinaten für Handlung und Orientie-rung suchen liess. Erst in dieser gesellschaftlichen Situation erhielt das Ungleichgewicht zwischen den beiden Händen seine Bedeutung. Und es ist auch dieBedeutung von Rechts/Links in der Ge-genwart. Die Selbstbestimmung ist weiterhin die Aufgabe - und wir haben keine dritte Hand.
Die beiden Hände von Markt, Staat und Zivilgesellschaft
Allerdings ist mit der Dichotomie der beiden Hände, also mit Rechts und Links allein noch nicht Poli-tik zu machen. Hinzu kommt stets die Frage, wie sich die beiden Flügel - 'Flügel'? - konkret zu den widersprüchlichen gesellschaftlichen Mächten verhalten, und damit zum Widerspruch zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft (oder Volk). Hier erhalten die expliziten Ideen und Ideologien Bedeutung.
Die marktorientierte Rechte stellt sich auf die Seite der Marktmacht. Die Partei der Globalisierung und des 'freien Spiels für die Kräfte des Marktes' ist heute hegemonial, in Gestalt des neoliberalen Mainstreams - mit Ronald Reagan, Margaret Thatcher, George Bush. Making the world save for capitalism. Und ganz persönlich: 'Du bist deines eigenen Glückes Schmied.'
Die marktorientierte Linke stimmt dieser Globalisierung prinzipiell zu, wünscht aber gewisse soziale Regulierungen - mit Tony Blair, Gerhard Schröder, Bill Clinton.
Eine andere Tradition repräsentiert die staatsorientierte Linke, die in erster Linie auf die staatliche Sicherung der öffentlichen Wohlfahrt setzt. Die klassische preußische Sozialdemokratie - mit Au-gust Bebel - lieferte ein staatssozialistisches Modell, auch 'Eisenbahnsozialismus' genannt. Auf andere Weise arbeiteten die skandinavischen Sozialdemokratien auf das Wohlfahrtsmodell Folk-hemmet, auf die 'Volksheimat' hin. Der Leninsche Staatsmonopolismus hingegen zeigte die terrori-stischen Möglichkeiten des staatssozialistischen Modells.
Nicht ganz ohne Berührungspunkte damit war die staatsorientierte Rechte. Sie führte den öffentlich-staatlichen Ansatz des vormodernen Absolutismus weiter - und konnte darum punktuell durchaus mit der sozialdemokratischen Linken zusammenarbeiten, so in der dänischen Politik. Wo die staats-orientierte Linke allerdings gegenüber der Problematik staatlicher Macht nur tendenziell blind war, tendierte die Rechte - mit Carl Schmitt - zur bewussten Hypertrophie staatlicher Gewalt, Disziplin und Zentralorganisation. Der Staat sei gut, er rette uns vor dem Chaos und der Gier der Menschen, vor dem Bösen des Volkes. Der Faschismus bildete einen Gipfel dieser Rechten.
Das Volk als Zivilgesellschaft ist hingegen der Bezugspunkt der volklichen Linken. Sie hat ihre Wur-zeln in den sozialistischen Formen von Selbstorganisation, in Genossenschaften und Kooperativen, in der kulturellen und ökonomischen Demokratie von unten. Von der Assoziation als dem selbstbestimmten Verein führt über den 'Assoziationalismus' der Weg zum frühen Sozialismusbegriff. Syndikalismus, Arbeiterkultur und sozialistische Jugendbewegungen haben seit 1900 der zivilgesellschaftlichen Linken weitere Nuancen hinzugefügt. Nach 1968 kamen die Graswurzelbewegungen hinzu, die Anti-EU-Bewegung in Dänemark, die Grünen in Deutschland, die Hausbesetzer und an-dere Formen oppositioneller Selbstorganisation. Neuerdings haben das 'Volk von Seattle' und Attac neue, globalisierungskritische Impulse für die zivilgesellschaftliche Linke gebracht.
Es gibt jedoch auch eine zivilgesellschaftliche Rechte. Von bürgerlich-humanitären Logen und Interessen-gruppe über studentische Korporationen bis hin zu nationalistischen Wehrsport-Gruppen und Skinheads spannt sich ein breites Spektrum. Der Unterschied zur Linken liegt hier oft in der Verherrlichung von Hierarchie und Gewalt. In jedem Fall ist die Zivilgesellschaft - das Volk - keine Idylle. Sie ist ein Feld von Gegensätzen und Zusammenstössen. Zu ihr gehören auch Strömungen, die gegenüber einer Rechts-Links-Einteilung ambivalent sind, wie zum Beispiel religiöse Erweckungsbewegungen. Dazu gehören die Selbstorganisationen der Einwanderer, einschliesslich der fundamentalistischen Netzwerke.
Die Entscheidung und das Leben
Zwischen diesen verschiedenen Kräften moderner Demokratie gibt es unterschiedliche Widersprü-che und Allianzen. Das macht den gegenwärtigen Kampf gegen die kapitalistische Globalisierung - quer zu rechts und links - so erregend. Aber der Rechts-Links-Konflikt bleibt. Die träumerische Vor-stellung, 'beides sei nötig' und also Harmonie von Rechts und Links anzustreben, ist eher ein Alp-traum. Solange wir es mit dem Machen und der Macht zu tun haben, darf der Widerspruch nicht verkleinert werden. Die Rechte herrscht in jedem Fall - da hilft es nur, die Linke stark zu machen.
Das mag wie ein Appell zur Entscheidung klingen, ist es aber nicht. 'Die Entscheidung' ist selbst ein eher rechtes Konzept mit seinen Elementen der Herrschafts-, Managements- und Produktionslogik und seiner Ferne zur 'linkischen' Verunsicherung, Infragestellung und Ironie. Und konkret: Rechts und Links ist wohl nicht etwas, das wir beschliessen, sondern das wir leben. Nicht eine Ent-scheidung von einzelnen, sondern ein Leben mit anderen.
Michail Bakunin hat einmal gesagt: Sässen wir nur ein Jahr an der Stelle des Zaren, würden wir so sein und so werden wie dieser. Das ist die Grundeinsicht materialistische Selbstkritik. Als Selbst-Kritik setzt sie sich ab sowohl von der Fixierung auf die Herrschaft der Ideen als auch von der Hypertrophie des Individuums und seiner 'Entscheidung'. Der Mensch ist nicht allein auf der Welt. Weder der rechte, noch der linke. Von 'Leben' der Rechten und der Linken her erklärt sich auch jenes charakteristische Ungleichgewicht der Konversionen zwischen den beiden Positionen. Im bio-graphischen Verlauf wenden sich immer wieder Menschen von links nach rechts - nicht nur Männer, aber insbesondere Männer. Dem stehen nur wenige Konvertiten gegenüber, die von rechts nach links gingen.
Helder Camara begann seinen politischen Weg beim brasilianischen Faschismus, der 'Integralistischen Aktion' der dreissiger Jahre, bevor er als Theologe der Revolution sein Leben riskierte und Leitfigur der antikolonialen sozialistischen Linken wurde. Francois Mitterand bewegte sich zunächst unter rechtsradikalen Studenten und Vichy-Anhängern, bevor er den französischen Sozialismus erneuerte. Gert Petersen schloss sich als Schüler der dänischen DNSAP an, bevor er im Widerstand Kommunist wurde, dann linkssozialistischer Dissident und später langjähriger Vorsitzender der Socialistisk Folkeparti. Johannes Agnoli war Provinzialleiter der Jungfaschisten in Mussolinis Repubblica Sociale Italiano, beeinflusste aber später als Theoretiker der Warengesellschaft und der Staatskritik massgeblich die Herausbildung der Neuen Linken in Deutschland und behielt nach dem Scheitern von 1968 seine radikal oppositionelle Sicht bei. Bei der deutschen Neuen Linken hatten auch Peter Brückner, Hans-Jürgen Krahl und Gudrun Ensslin 'rechte Flecken' in ihren frühen Biographien.
Das sind jedoch Vereinzelungen im Verhältnis zu dem breiten Strom, der sich von Generation zu Generation in die umgekehrte Richtung, von jung-links nach alt-rechts hinüberwälzt. Als 'Entschei-dungen' sind diese biographischen Prozesse - und ihr charakteristisches Ungleichgewicht - schwerlich zu verstehen.
Auch dazu eröffnet der materialistische Ansatz von rechter und linker Hand - den ich übrigens Se-bastian Haffner verdanke - einen Zugang. Aber um von ihm zu den politischen Inhalten zu kom-men, bedarf es weiterer Nuancierung, und insbesondere des dialektischen Zugangs von Staat, Markt und Zivilgesellschaft her - den man mit Asger Jorn vielleicht trialektisch nennen sollte. Beide zusammen, der materialistische Ansatz von der menschlich-körperlichen Praxis her und der dialek-tische Ansatz von den Machtverhältnissen zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft, bilden eine Alternative zu einer Auffassung von Politik, die bei den 'Ideen' - und damit bei den 'grossen Män-nern' - hängen bleibt.
Die neue destruktive Rechte
Gewiss doch: 'dritte Wege' sind ein sinnvolles und, mehr noch, ein notwendiges Verfahren, nach Alternativen in verfahrenen Situationen zu forschen. Aber anzunehmen, es lasse sich ein dritter Weg jenseits von links und rechts finden, führt in Illusionen. Es sind typischerweise Selbsttäu-schungen von enttäuschten Rechten - die auf der Rechten bleiben.
Die Herausforderung der nachklassischen Rechts/Links-Einteilung liegt anderswo. Die herrschen-den Sozialdemokratien sind im Zuge wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung vielfach zu Machern gewor-den und haben ihren Frieden mit der kapitalistischen Ausbeutung geschlossen. Sie sind damit habi-tuell nach rechts gerückt. Das öffnete ein Feld für populistische Protestwahlen, bei denen der Wäh-ler nicht-macherisch reagiert und 'den Herrschenden eine Warnung verpassen' will.
Dem Unbehagen am 'Verrat der Eliten' bietet sich aber als Alternative keine systemoppositionelle Linke mehr an. Darum stärkt die Wahl 'linker Hand' diffuse Protestparteien. Und auf der Basis sol-chen Protests können sich neoliberale und populistische Rechtsregierungen etablieren - die jedoch kein Programm haben ausser der Verneinung. Ihr destruktives Handeln richtet sich insbesondere gegen die Institutionen, die im mühsamen Kampf von Jahrzehnten in den Bereichen der Kultur und Forschung, der Umwelt, der Erziehung und Bildung, der Friedenspolitik der sozialen Wohlfahrt errichtet worden sind. Als 'positives' Bild rechter Politik bleibt allenfalls die Beschleunigung des Auto-verkehrs - und der Krieg. Die neuen Regierungen von 2001 - Berlusconi in Italien, der Hamburger Senat auf der Grundlage der Schill-Partei und die dänische Rechtsregierung auf der Basis der po-pulistischen Dansk Folkeparti - liefern dafür Anschauungsmaterial.
Das Neue der Situation besteht also darin, dass die Rechte mit der 'linken Hand' gewählt wird und als Destruktionskraft herrscht, während die Linke sich als handlungsfähige 'rechte Hand' präsentiert - Schröder, Blair, Nyrup Rasmussen - und damit das verbreitete Misstrauen gegen 'die da oben' auf sich zieht. Damit öffnet sich die Frage nach der Systemopposition neu, für die die klassische revolutionäre Linke einst Antworten bereit hatte.
Insofern - und nur insofern - ist die moderne Phänomenologie der Hände und des Handelns in der Krise. (ams gruppe)
Zusammenfassung einiger Thesen aus den Büchern Højre eller venstre? (Kopenhagen 2002) und The People of Democracy (Århus 2003, im Druck). November 2003.
Literatur
Bobbio, Norberto 1994: Destra e sinistra. Ragioni e significati di una distinzione politica. Roma: Donzelli, 2. rev. Aufl
- Auf Dänisch: Højre og venstre. Årsager og betydning af en politisk skelnen. Kopenhagen: Reitzel 1995.
Eichberg, Henning 2002: 'Venstre, højre, tredje? - om politiske konfigurationer.' (Links, rechts, drittes? Über
politische Konfigurationen) In: Carsten Fenger-Grøn (red.): Højre eller venstre? Kopenhagen: Tider-ne Skifter, 83-109.
Fenger-Grøn, Carsten 2002 (Red.): Højre eller venstre? 12 bud på en retning for fremtidens politik. (Rechts oder links?
12 Richtungsangaben für die zukünftige Politik). Kopenhagen: Tiderne Skifter.
Haffner, Sebastian 1985: 'Rechts und links.' In: Im Schatten der Geschichte. Stuttgart: DVA, 4. Aufl., 231-234.
Hoberman, John 1984: Sport and Political Ideology. Austin: University of Texas Press.
Theweleit, Klaus 1977: Männerphantasien. Frankfurt/M.: Roter Stern 1977. |
Der 20. Juli ist im Kalender der Bundesrepublik ein fester Termin, doch in Wahrheit steckt
er ihr wie eine Karpfengräte im Hals. Würde dieses Land, in dem schon das
Ladenschlußgesetz als politischer Ernstfall gilt, sich an der Courage dieser
Männer, die ihr Leben an die Rettung ethischer Werte gesetzt haben, ehrlich
messen, müßte es zuerst die Verzwergung des Politischen und des
geschichtlichen Denkens realisieren, die sich in ihm vollzogen hat.
Gewiß, als eine der Lehren aus dem 20. Juli wird die 'Zivilcourage'
beschworen, doch diese bezeichnet nur die Fähigkeit, eine offiziell
favorisierte Meinung beziehungsweise Haltung als Widerstand gegen Staat und
Gesellschaft zu inszenieren und neben selbstgefälliger moralischer
Überlegenheit auch noch in den Genuß staatlicher Subventionen zu kommen.
Dieser Tag liegt quer zum Selbstverständnis dieser Republik, vor allem, weil
die ethischen Überzeugungen, für die er steht, rückgebunden waren an einen
deutschen Patriotismus.
Man wird den Männern des 20. Juli nur gerecht, wenn man sie in ihrer
Widersprüchlichkeit und Entwicklung begreift. Viele entstammten den alten
Führungsschichten, die sich nach 1933 nur zu gern im Opportunismus geübt
hatten. Der Diplomat Ulrich von Hassell, einer der Mitverschwörer, vermerkte in
seinem Tagebuch mit zunehmender Verbitterung, wie Militärs und Beamte sich
durch Erfolge Hitlers oder durch Zuwendungen korrumpieren ließen. Die moderne
Massengesellschaft war vielen innerlich fremd, die Mahnung Ernst Jüngers, um
Erfolg zu haben, müsse man auch am Mikrofon stärker sein als Hitler, konnten
sie kaum begreifen. Diesen schwachen Punkt hat Goebbels genau erfaßt, als er in
seinem Tagebuch sinnierte, er selber hätte eine vergleichbare Aktion gewiß zum
Erfolg geführt.
Politischen Strategen wie Moltke war deshalb klar, daß ein erfolgreicher
Staatsstreich nur der Anfang von tiefgreifenden Umwälzungen sein konnte. Der
20. Juli und seine Vorgeschichte zeigen, daß Deutschland und seine Eliten zur
Selbsterneuerung fähig waren. Ein breitgefächertes Bündnis aus
Gewerkschaftern, Sozialdemokraten, Bildungsbürgern, Beamten, Geistlichen,
preußischen Konservativen und Militärs hatte sich dazu zusammengefunden. In
diesem Bündnis lag die Chance auf eine politische Umgründung Deutschlands bei
gleichzeitiger Wahrung seiner inneren Kontinuität.
Über die Möglichkeiten, die ein erfolgreiches Attentat eröffnet hätte,
kann man nur spekulieren. Bestimmt wären die Judendeportationen umgehend
gestoppt, die KZs geöffnet, Prozesse gegen führende NS-Leute sowie
Friedensbemühungen eingeleitet worden. Die bedingungslose Kapitulation wäre
Deutschland kaum erspart geblieben, trotzdem hätte es sich in einer ungleich
besseren Position befunden als im Mai 1945.
Dem 'Wüstenfuchs' Erwin Rommel wird von seinen Kriegsgegnern bis heute
Respekt gezollt - hätten sie ihm den Posten als neuer Armeechef dauerhaft
verweigert? Die beiden langjährigen KZ-Insassen Kurt Schumacher und Martin
Niemöller sowie Bischof Clemens Graf von Galen, der 'Löwe von Münster',
der todesmutige Brandreden gegen das Regime geschleudert hatte, wären sie als
Vertreter eines neuen Deutschland ins Ausland gereist, um mit ihrer Person gegen
die Kollektivschuldthese zu bürgen - hätten sie in der Öffentlichkeit nicht
wenigstens ein Nachdenken ausgelöst? Vielleicht wären Teile Hinterpommerns und
Niederschlesiens für Deutschland gerettet worden. Vielleicht.
Auf jeden Fall wäre der geistig-moralische Zusammenbruch nicht so total
gewesen. Die Traditionen und Institutionen, die für das staatliche Leben ein
notwendiges Korsett bilden, wären weniger stark zerstört und kompromittiert
worden. Es hätte kein Gefühl der totalen Niederlage gegeben, das sich in einen
nationalen Masochismus verwandelt hat, damit es überhaupt ertragen werden kann.
Die selbstherrliche 'anglo-amerikanische Geschichtserzählung über den
Zweiten Weltkrieg', die 'den Triumph der freiheitlichen Zivilisation des
Westens über seine totalitären Herausforderer ins Zentrum der historischen
Erinnerung' stellt (Richard Herzinger), wäre nicht so dominant geworden und
hätte nicht das - vorläufige? - Ende des geschichtlichen Bewußtseins in
Deutschland und den Anfang seiner kulturellen und geistigen Verödung markiert.
Das gescheiterte Attentat vom 20. Juli hat zu einer Verschiebung der
innerdeutschen Machtverhältnisse geführt: Weg von den preußischen Eliten, die
einst Stil und Geist des Staates bestimmt hatten, die nun teils ermordet und
teils ihrer ökonomischen und lokalen Basis beraubt wurden, hin zum rheinischen
und süddeutschen Bürgertum. Es war ein Grundfehler des Deutschen Reiches
gewesen, diese Schichten nicht sofort nach 1871 in die politische Führung
einbezogen zu haben. Die Korrektur fand nun als gewaltsamer Kontinuitätsbruch
in einem immer noch jungen, seiner nie sehr sicher gewesenen Nationalstaat
statt. Selbst Konrad Adenauer war zuletzt voller Sorge, ob die Bundesrepublik,
deren wirtschaftliche Prosperität beispiellos war, für schwierige Zeiten nicht
über zu wenig politische Substanz und Prägnanz verfüge. Tatsächlich droht
die deutsche Wiedervereinigung sich zu einer Staatskrise auszuwachsen.
Wenigstens für die symbolpolitische Vakanz hat Gerhard Schröder wieder
einmal Gespür bewiesen. Die Regierungsklausuren zur Reformierung des gen Oder
ausgedehnten Rheinbundstaates finden im brandenburgischen Schloß Neuhardenberg
statt, das nicht nur der Sitz des preußischen Staatskanzlers und Reformers war,
sondern auch ein wichtiger Treffpunkt der Männer des 20. Juli. Noch bleiben
solche medialen Inszenierungen ohne Konsequenzen. Vielen tonangebenden Kräften
im Land scheint das Scheitern des 20. Juli und seine Spätfolgen insgeheim ganz
recht zu sein. Man kann das unter anderem an der ausgebliebenen Restitution der
enteigneten 'Junker' ablesen, darunter auch solcher, die wegen ihrer
NS-Gegnerschaft enteignet und ermordet wurden. Dabei spricht ökonomisch und -
angesicht der anhaltenden Landflucht aus der Ex-DDR - auch psychologisch nichts
mehr dagegen. Offenbar soll verhindert werden, daß ein Traditionsbestand, der
über den Horizont dieser umerzogenen Bundesrepublik hinausreicht, wieder einen
regionalen Bezugs- und Ausgangspunkt erhält.
Andererseits sind heftige Suchbewegungen im Gange, weil jeder spürt, daß
die Dinge so nicht weiterlaufen können. Es ist durchaus denkbar, daß sie schon
bald bei dem Patriotismus, dem Opfersinn und dem Mut fündig werden, die am 20.
Juli 1944 durch das Blut der Besten besiegelt wurden. |