In der DDR werden täglich Menschenrechte verletzt. Soll ein Russell-Forum dazu Stellung nehmen? Heinz Brandt hat es gefordert. Andere Sprecher der Linken (auch der 'Neuen Linken') winkten ängstlich ab oder rangen sich allenfalls zu einem halbherzigen 'Jein' durch: Es drohe der 'Beifall von der falschen Seite', von seiten der nationalmaoistischen KPD, von der rechten SPD oder gar vom 'Bayernkurier'.
Mit denselben Argumenten, mit derselben Ängstlichkeit gegenüber 'falschen Freunden' haben sich namhafte Teile der westeuropäischen Intelligenz schon in den dreißiger Jahren geweigert, die Stalinistischen Schauprozesse in Moskau und die Liquidation der alten Garde des Bolschewismus zu kritisieren. Ist die 'Neue Linke' so neu, wie der Name sagt (und worauf wir unsere Hoffnung setzen)? Ihre Ängstlichkeit ist es jedenfalls nicht. Das muß aber nicht so bleiben.
Es geht jedoch um noch mehr. Die Weigerung, den Stalinismus kritisch ernstzunehmen, blockierte damals nicht nur die Moral, sie blockierte auch den Lernprozeß der europäischen Linken auf Jahrzehnte hinaus. Man nahm sich die Möglichkeit, den Unterschied, aber auch den Zusammenhang zwischen Stalinismus und Leninismus, auch zwischen Stalinismus und Marxismus zu überprüfen. Man personalisierte das ganze im nachhinein zur 'Stalin-Frage'. Man fuhr fort, vom 'Sozialismus' in der UdSSR und von den 'sozialistischen Ländern' zu sprechen. Die Angst vor 'falschen Freunden' führte dazu, daß man diesen erst recht in die Hände arbeitete und ihnen die schwachsinnige Alternative 'Freiheit oder Sozialismus' überhaupt ermöglichte.
Dieser Lernprozeß könnte durch ein Russell-Forum über die Menschenrechtsverletzungen in der DDR zu einer Überprüfung der eigenen Voraussetzungen führen. Menschenrechte sind nämlich nichts Abstraktes, sondern etwas sehr Konkretes, etwas unmittelbar Erfahrbares. Der italienische Lastwagenfahrer (mit kommunistischem Parteibuch), der als 'Provokateur' von DDR-Grenzern in den Rücken geschossen wurde, - das war ein Anblick, den wir nicht so schnell vergessen sollten. Und der Verdacht, daß Staatssicherheitsdienstbeamte neben anderen Fertigkeiten angeblich auch die Technologie des Folterns in einige afrikanische Staaten exportieren (auch das wäre vom Russell-Tribunal zu überprüfen), ist konkret.
Weil das alles so konkret, so körperlich erfahrbar und so alltagspraktisch ist, hängt die ganze Menschenrechtsfrage eben auch mit dem politisch-gesellschaftlichen System zusammen, und es besteht kein Anlaß, diesen Zusammenhang zu scheuen. Die Menschenrechtsverletzungen in der DDR lassen sich nicht vom ökonomisch-sozialen System trennen und verweisen darauf, daß in einem Teil Deutschlands weder ein 'realer Sozialismus' noch überhaupt ein Sozialismus besteht. Wer heute noch von den 'sozialistischen Ländern' spricht (ich meine nicht nur die CSU-Autoren), und sei es auch in Anführungszeichen, hat das Russell-Forum über die DDR besonders nötig. Sozialismus ist nämlich anders.
Und dann läßt sich die ganz konkrete Menschenrechtsverletzung natürlich auch nicht abtrennen von unserer nationalen Frage in Deutschland. Unser Land ist besetzt (nicht nur im Osten, übrigens). Auch das ist Alltagspraxis. Seit mehr als 30 Jahren.
Also wird man dazulernen, daß Menschenrechte nichts Abgehobenes, nichts 'Nur-Individuelles' sind. (Das wird man übrigens auch eines Tages an einem Russell-Forum über Südafrika erfahren. Auch dort werden nicht nur abstrakt und zusammenhanglos einzelne Menschen im Polizeigewahrsam tot aufgefunden, sondern sie werden es konkret in einem System von Rassenherrschaft und kapitalistischer Überordnung einer weißen Minderheit über schwarze Völker.)
Von solchen Lernprozessen her darf man sich dann vielleicht auch eine Überprüfung der bisherigen Ergebnisse des Russell-'Tribunals' über die BRD erwarten. Haben wir dabei vielleicht auch zu abstrakt-schematisch hingeschaut und den Systemcharakter und Alltagsbezug der Menschenrechte nicht genügend beachtet? Haben wir vielleicht allzu traditionell nur auf das geschaut, was unter die Stichworte 'politische Gefangene' und 'Berufsverbote' fällt, also auf die staatliche Ebene? Haben wir darüber vielleicht das aus dem Blick verloren, was die eigentliche alltagspraktische Realität in diesem Lande darstellt: die Menschenrechte unter der Herrschaft der großen Konzerne, die reale Innenwelt von Siemens, IBM und ITT-Deutschland, die Tendenzen von der AKW-Sicherheit zur Elektrodiktatur, den Anschlag der Chemiekonzerne auf das konkrete Leben des vergifteten Einzelnen?
Und durfte man die Menschenrechtslage in der BRD abtrennen von der nationalen Frage, von der Besetzung Westdeutschlands durch amerikanische Truppen seit 1945? Noch immer beschäftigt uns die Frage: War es ein Zufall, daß Ulrike Meinhoff gerade in dem Augenblick starb, als sie darstellen wollte, warum die RAF das amerikanische Truppen-Hauptquartier in Heidelberg und das CIA-Hauptquartier in Frankfurt am Main angegriffen habe, und damit auf den neokolonialen Zustand der BRD ('die von der CIA überwachte Abhängigkeit des Staates Bundesrepublik von den USA - ohne deren Kolonie im völkerrechtlichen Sinn zu sein') aufmerksam machte (siehe 'Konkret' 2/77)?
Beides, das ökonomisch-soziale System und die nationale Frage, läßt sich also wohl kaum von der Menschenrechtsfrage abtrennen. Das könnten wir durch ein Russell-Forum über die DDR lernen und damit auch etwas über unsere Lage in der BRD. Wir könnten lernen, was Sozialismus nicht ist, und damit einen Schritt weiter kommen, was Sozialismus sei und sein soll.
Ein solches kritisches und zugleich selbstkritisches Forum beriefe sich zu Recht auf Bertrand Russell, der sehr wohl wußte, warum er schon 1918 vor einem von oben her diktierten bürokratischen Staats-Marxismus warnte (Bertrand Russell: 'Wege zu Freiheit, Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus', zuerst 1918, dt. 1971. - Auch seine Aufsätze 'Why I am not a Communist' 1934 und 'Der Irrtum des Kommunismus' 1950).
Aus Angst Lernprozesse vermeiden? Freiwillig die Bewegungsunfähigkeit wählen? Diesen Gefallen sollten wir den 'falschen Freunden' nicht tun. (ams gruppe)
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In Magdeburg hat sich eine Bürgerinitiative für einen "Gedenktag 20.Juli" zusammengeschlossen. Ein daran beteiligter Bundeswehroffizier nannte als Ziel, "junge Leute zu beherztem Handeln" zu motivieren, indem der in der DDR vernachlässigte Widerstand des Militärs und der Adligen verstärkt ins Gedächtnis gerufen werde. Wertvoll ist die Initiative allerdings vor allem auch wegen des zunehmenden Verschwindens des historischen 20. Juli aus dem kollektiven Gedächtnis des wiedervereinigten Deutschlands.
Die offizielle Geschichtsschreibung der DDR, deren negativer Einfluß jetzt in Magdeburg gerade wieder zu Recht beklagt worden ist, hatte mit ihrer Polemik gegen den "Interessenputsch der Junker, Monopolisten und Reaktionäre" vorweggenommen, was im Westen ab Mitte der sechziger Jahre vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen in die Deutungen der Historiographen des Widerstandes einfloß: Die Vorstellungen der verschiedenen Widerstandsgruppen für die Zeit nach dem Putsch wurden vom Blickwinkel des bundesrepublikanischen Parlamentarismus aus durchleuchtet und dann in "reaktionär" oder "progressiv" geschieden (so beispielsweise bei Hans Mommsen: "Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstandes", 1966).
Parallel zur Herabsetzung des militärischen Widerstands verbreitete sich die ebenfalls aus dem offiziösen Ritus der DDR übernommene Deutung des 8. Mai 1945 als "Tag der Befreiung vom Faschismus". Auf eine gewisse Weise mag hier ein Konnex vorliegen, und zwar innerhalb einer vulgär-säkularisierten Form der lutherischen Rechtfertigungslehre: Die Deutschen ? durch eigene Schuld unter dem hitleristischen Joch ? konnten, ja durften nur von außen, durch die Alliierten befreit werden. Die Versuche der Verschwörer, die Ehre der Nation durch eigenes Handeln, eigenes Opfer wiederherzustellen, müssen in dieser Sicht wie die bekämpfte "Werkgerechtigkeit" erscheinen, die dem "Allein-aus-Gnade" entgegensteht: Nur die jenseitige Instanz ? hier also die Siegermächte ? kann Vergebung erteilen. Aus dieser Sichtweise kommt jeder Versuch, die totale Niederlage abzuwenden, einem Verrat am Sinn und Ziel der Geschichte, der "Vorsehung" mit umgekehrten Vorzeichen also, gleich; von hier aus kann nur verworfen werden, was Henning von Tresckow nach dem gescheiterten Putsch erhoffte: "Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, daß Gott auch Deutschland um unsretwillen nicht vernichten wird." Die Entschlossenheit des Patrioten schmeckt den heutigen Antifaschisten nicht, denn für ihr Weltbild benötigen sie das Finis Germaniae, damit allein der Hinweis auf jene zwölf Jahre genügt, um jedwede deutsche oder preußische Tugend als diskreditiert abzutun. Sie lehnen sich an das Diktum Hitlers an, der bereits 1939 fast wie in einer Vorahnung über die Maximen der gegen ihn aufbegehrenden Frondeure meinte: "Leute, die von Patriotismus nicht bloß reden, sondern ihn zum einzigen Motiv ihres Handelns machen, sind suspekt." Was in der Tat für viele heutzutage verwirrend erscheint, ist der Mangel an jeglichem Utilitarismus in der Motivation der Verschwörer. So stellt der Historiker und Stauffenberg-Biograph Peter Hoffmann fest: "Nutznießer konnte nur das überlebende deutsche Volk sein, auch in einer noch nicht konzipierbaren Weise das ?Reich?."
Sträubt man sich gegen die antifaschistischen Umdeutungen, wertet man den 8. Mai 1945 als Tag der (nicht nur militärischen) Niederlage, so erschließt sich gerade darin der Sinn eines feierlichen nationalen Gedenkens an den 20. Juli 1944. In der Rede "Was ist eine Nation?", gehalten 1882 in Paris, erläuterte Ernest Renan seine These vom "täglichen Plebiszit", welches das Dasein der Nation bestimme. Dem "gemeinsamen Wollen in der Gegenwart" liege auch ein "gemeinschaftliches Erbe von Ruhm und von Reue" zugrunde. "Die nationalen Erinnerungen und die Trauer wiegen mehr als Triumphe, denn sie erlegen Pflichten auf, sie gebieten gemeinschaftliche Anstrengungen."
Genau hier liegt aber die Crux, die das offizielle Gedenken an den 20. Juli 1944 in der Bundesrepublik bereits bestimmt hat, als es noch verbreiteter war. Während des Verneigens vor den Opfern wurde zunehmend einerseits die Tat, also
der Versuch, Hitler gewaltsam zu beseitigen, andererseits die Gewissensentscheidung zu der Tat gewürdigt. Fortgelassen wurden die politischen Ziele, die man nur schwerlich mit dem Status Quo der Nachkriegszeit in Einklang hätte bringen können.
Unverhohlen fördert dies ein Vortrag Richard von Weizsäckers zutage, den er 1964 in Ost-Berlin hielt: "Was vom 20. Juli 1944 fortwirkt, sind nicht historische Zusammenhänge oder politische Berechnungen bei den Verschwörern, sondern ihr Charakter, ihr Gewissen und ihre Tat." Ja, peinlich berührt hätte man in Ost und West schweigen müssen, wären einige Absätze aus dem Entwurf der Regierungserklärung von Goerdeler und Beck zum Fortwirken ausgerufen worden: "Eine endgültige Verfassung kann erst nach Beendigung des Krieges mit Zustimmung des Volkes festgesetzt werden. Denn die Frontsoldaten haben einen Anspruch darauf, hierbei mit besonderem Gewicht mitzuwirken." Oder: "Wir wollen keine Spaltung unseres Volkes. Wir wissen, daß viele aus Idealismus, in Verbitterung über das Diktat von Versailles und seine Auswirkungen, über manche nationale Unwürde in die Reihe der Partei eingetreten sind, andere unter einem äußersten Zwang wirtschaftlicher oder sonstiger Druckmittel ... die einzige Scheidung, die zu vollziehen ist, ist die zwischen Verbrechen und Gewissenlosigkeit auf der einen, zwischen Anstand und Sauberkeit auf der anderen Seite ... Nur wenn wir einig bleiben, allerdings auf der Grundlage von Recht und Anstand, können wir den Schicksalskampf, vor den Gott unser Volk zwingt, bestehen."
Die Eile, zu der der schwerverwundete Graf Stauffenberg in der Rastenburger Führerbaracke getrieben wurde, bewirkte das Fehlen eines knappen Kilogramms Sprengstoff: die Menge, deren Fehlen für das Mißlingen des Staatsstreiches Hauptursache war. Dies erhebt den 20. Juli 1944 zum tragischem Datum, das Scheitern kratzt kein Jota vom Heldentum der Täter. Für das Erinnern der Nation, die selbst-bewußt sein muß, ist er ein aktives Datum, wertvoller als das dröge repetierte "Nie wieder!", das turnusgemäß am 27. Januar oder 8. Mai erschallt.
Der das Attentat, das ihm galt, überlebt hatte, äußerte wenig später: "Ich habe schon oft bitter bereut, mein Offizierkorps nicht so gesäubert zu haben, wie Stalin es tat. Aber ich muß und werde das nachholen." Es hieße, ihm zum unverdienten Erfolg zu verhelfen, holte man den bedeutendsten Widerstand nicht in die "historische Erziehung der Nation" (Peter Hoffmann) zurück.
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